Von der südafrikanischen Küste in die Townships
In die Vielfalt des südafrikanischen Lebens
März 2023
 English         WEIRD Magazin
An die Universität Stellenbosch, mit dem Nachtbus weiter an die Südküste und dann mit dem Rennrad 1.000 km in 6 Tagen dem Meer entlang und in die Berge. Totalschaden an der Südspitze Afrikas und trotzdem zum Kap der Guten Hoffnung gekommen. Wohnen im Township Langa, in den Slums von Kapstadt. Unglaublich Vielfältig, aber auch zerrissen.
Ubuntu
Menschlichkeit und Gemeinsinn:
„Ich bin, weil wir sind.“
Ubuntu ist eine Lebensphilosophie in den afrikanischen Subsahara-Ländern. 
Desmond Tutu: „Ein Mensch mit Ubuntu ist offen und zugänglich für andere, fühlt sich durch sie bestätigt und nicht bedroht, weiß um die Fähigkeiten und Güte anderer. Wer Ubuntu besitzt hat eine ausgeprägte Selbstsicherheit, die vom Wissen herrührt, dass er oder sie einem größeren Ganzen angehört.“
Totalschaden am südlichsten Punkt Afrikas
Am Cape Agulhas bricht mein Schaltwerk, das Rad hat Totalschaden. Mein Nachtquartier liegt 60 Kilometer im Norden, zu weit zum Gehen, da es bald finster ist. 
Thando der Tankwart hat einen Freund, der mich führen kann. Kaya hält sein Versprechen und kommt bereits nach zwei Stunden mit dem Auto seiner Frau. Gott half ihm von den Drogen loszukommen. Reich will er nicht werden, aber wenn seine Kinder, seine Frau jeden Tag etwas zu essen haben, ist er glücklich. Vielleicht kann er seiner Tochter auch einmal das so sehr ersehnte Kinderfahrrad kaufen. Ich danke ihm tausendmal, er hat mir eine sehr schwierige Nacht erspart. Dass Kaya mir am nächsten Tag nochmals schreiben wird, um sich zu erkundigen wie es mir geht und ob alles in Ordnung ist, wusste ich noch nicht.
Das Unmögliche wird war
Ansa und Andre warten bereits in ihrem Haus in Bredasdorp auf mich. „This gentleman helped me so much today“ sind meine ersten Worte. Ich erkläre was geschah und wie sehr ich Kaya zum Dank verpflichtet bin. Dann verabschiede ich mich von meinem Helfer und gebe ihm für das Rad seiner Tochter das notwendige Geld. Ich muss meine ganze Überredungskunst einsetzen, damit er es nimmt.
Im Morgengrauen starten wir nach Stellenbosch und es entwickelt sich ein hochinteressantes Gespräch über die Lage Südafrikas. Die beiden führen mich zu jener Radwerkstatt, bei der ich vor einigen Tagen den Radkarton für den Bus holte.
Sie kann den Schaden – fast – beheben und ich werde in wenigen Stunden am Strand von Somerset West frühstücken. Gestern noch undenkbar. Ansa schreibt mir noch zweimal, ob alles in Ordnung ist und ich noch Hilfe benötige.
Gegensätze
Die weißen Holländer bekämpfen ab 1652 die schwarzen Einheimischen, dann die Briten die Holländer. Beide einigen sich auf eine Rassentrennung und sperren die Schwarzen in Townships. 1994 wird Nelson Mandela Präsident, an der Rassentrennung hat sich seither nicht viel geändert.
Erfahren
Von Kapstadt aus an die Universität Stellenbosch. Eine abenteuerliche Fahrt im Nachtbus zum Indischen Ozean. Rauf in die Berge und entlang der Route 62 bei Gegensturm zum südlichsten Punkt Afrikas. Die wundersame Heilung vom Totalschaden und weiter an das Kap der Guten Hoffnung. Zurück über eine der schönsten Küstenstraßen der Welt. 
George
Ich finde in Kapstadt ein Zimmer bei George. Er ruf mich einige Tage vor der Abreise an, ob alles in Ordnung sei. In perfektem Wienerisch. Er kommt 1964 im Anschluss an die HTL als Techniker nach Südafrika, lebt zunächst in Johannesburg und gründet schon nach einigen Jahren seine eigene Firma. 1967 erleidet er beim Fußballturnier einen offenen Beinbruch, die Wunde wird am Groote Schuur Hospital schlecht gereinigt, nach einigen Tagen muss ihm das Bein abgenommen werden. Im selben Jahr führt genau dort Christiaan Barnard die erste Herztransplantation durch. George spielt noch Jahrzehnte leidenschaftlich Beachtennis. Heute mit 78 Jahren widmet er sich ganz seiner Firma.
Ich lerne von ihm sehr viel über die Zeit der Apartheid und den folgenden Transformationsprozess. Immer mit dem Hinweis, das sei aber nur seine Sicht. Wenn ich seine Frau, eine Kapmalaiin, frage, bekomme ich wohl ganz andere Anworten.
Ohne Frühstück gestartet, um das Tageslicht zu nutzen. Jetzt das erste in Südafrika – großartig. Heiß ist es bereits, richtig heiß wird es am Franschhoek Pass.
Die Einladung an die Universität Stellenbosch im Rahmen eines großen Forschungsprojekts freut mich ganz besonders. Auch durch die Vielfalt der Partner, etwa aus Kolumbien, Thailand, USA und Australien.
Schmatzende Säuglinge und Differenzialgleichungen
Die letzten Tage war ich stets mit Weißen zusammen. Ob auf der Universität, im Café oder beim Essen. Jetzt bin ich der einzige Weiße im Bus. Neben mir sitzt eine wirklich dicke Mama mit ihrem Säugling. Dem geschmeckt es die ganze Nacht so gut, dass er durch schmatzt. Hinter mir schaut ein Fan am Handy Fußball, ohne Kopfhörer. Vor mir löst ein Mitreisender Differenzialgleichungen. Der Raucher in der letzten Reihe bemerkt bald, dass er nicht viele Freunde hat.
Ich komme um 4:00 Uhr in der Früh in Stormsrivier an. Und dann? Ist es eine einsame Haltestelle, irgendwo entlang der Fernstraße? Eigentlich wollte ich bei Dunkelheit stets im Quartier sein. Nach der Analyse von Satellitenbildern in der Vorbereitung hoffe ich, dass die Tankstelle einen geöffneten Shop hat. Ich steige als einziger aus und mir fällt ein Stein vom Herzen, als tatsächlich ein Licht brennt. Dann kommt der Regen, aber die Erleichterung, dass ich tatsächlich am Rad sitze, ist so groß, dass ich ihn genieße.
Die Route 66 führt durch den ehemaligen Wilden Westen der USA, die Route 62 durch den noch immer naturbelassenen Süden des Western Capes. Ich finde ein Zimmer in Calitzdorp, in der Calitzdorp Straße in der Pension Calitzdorp. Auch Angela trägt diesen Namen und begrüßt mich gleich neben der kleinsten Bar auf der Route 62.
Am Nachmittag erreiche ich das Cape Agulhas. Schon ein beeindruckendes Gefühl, an der Südspitze Afrikas zu stehen. Gegenüber ist die Antarktis, bis dort hin nur Wasser.
Bei der Rückfahrt vom Cape Agulhas bricht mir das Schaltwerk und steht nach oben in die Speichen. Durch den starken Gegenwind fuhr ich zu lange eine falsche Übersetzung. Ich biege es zurück und schiebe zu einer Tankstelle. Dort lerne ich Ubuntu, die afrikanische Lebensphilosophie des gegenseitigen Helfens, kennen. Dass ich morgen wieder am Rad sitzen werde, ist unvorstellbar.
Gestern am Abend wusste ich nicht, wie ich durch die Nacht komme und dachte, die Tour sei aus. Jetzt frühstücke ich am Strand von Somerset West.
Auf der Fahrt vom Badeort Somerset West zum Surferparadies Muizenberg durchquere ich das Township Khayelitsha. Mit 400.000 Bewohnern ist es eines der größten Südafrikas. Ja, mir ist mulmig.
Boulders Beach ist mein letztes Quartier in der False Bay. Mitten in der Pinguinkolonie. Erst im Jahr 1983 wurde ein Pärchen entdeckt. Bis zum Jahr 2005 hat sich die Kolonie der afrikanischen Pinguine stark vergrößert, seither geht sie durch Umweltzerstörung wieder deutlich zurück. Die Jackass Pinguine sind mittlerweile als besonders gefährdete Art eingestuft.
Mehr Sturm als sonst
Im Morgengrauen breche in von meinem letzten Quartier auf der Tour in Boulders Beach zum Kap der Guten Hoffnung auf. Schiffe umfahren es weiträumig, um nicht an die Felsen gedrückt zu werden. Auch, um den dutzenden Schiffswracks auszuweichen. 
Als ich in das Gebiet des Capes einfahre, frage ich den diensthabenden Offizier, ob es hier immer so viel Sturm gebe: ‚„Nein, heute ist besonders viel“. Auch deswegen treffe ich bis auf einen Strauß niemanden. Ein Fahren ist oftmals kaum mehr möglich, ein Absteigen auch nicht.
Der Chapman's Peak Drive ist eine der atemberaubendsten Küstenstraßen der Welt. Zwischen 1915 und 1922 wurde die Straße in den 500 Millionen alten Fels hineingesprengt. 
Kapstadt
Kapstadt war die erste Stadtgründung in der Kolonialzeit. Das historische Stadtzentrum ist von zahlreichen holländischen und britischen Bauten geprägt. Aber auch von ganzen Stadtteilen, aus denen die Einheimischen vertrieben wurden, um sie in Township einzusperren. Harte Kost für mich ist der Stadtbezirk V&A Waterfront von Einheimischen „Disneyland“ genannt. Gebaut von einem saudischen Konsortium nur für Touristen und Superreiche.
Die St. Georges Cathedral und die Nurl Islam Moscheen liegen nahe beieinander. In der Kathedrale sind die sterblichen Überreste von Desmond Tutu beigesetzt. Die Moscheen in Bo-Kaap sind die Gotteshäuser der Kapmalaien.
Bo-Kapp ist das historische Zentrum der Kapmalaien, die ihre Herkunft auf muslimische, südasiatische Sklaven und Kontraktarbeiter zur Zeit der niederländischen Kolonialherrschaft zurückführen. Sie besiedelten das Viertel im 18. Jahrhundert, nachdem sie aus der Sklaverei freigelassen wurden. Heute ist es auch bekannt für seine bunten Häuser.
Der District Six wurde vor allem von freigelassenen Sklaven, Händlern, Künstlern, Arbeitern und Immigranten bewohnt. 1968 ordnet die Regierung die Zwangsumsiedlung der Schwarzen und Coloureds an, der Bezirk wird vollständig geräumt, die Häuser abgerissen und bis 1982 werden 60.000 Menschen in Townships zwangsverfrachtet.
Die Zuteilung eines Menschen zu einer Rasse erfolgt oft willkürlich. Japaner werden Weiße ‚ehrenhalber‘. Die Konsequenzen für das Leben sind gravierend.
Nelson Mandela sah Südafrika als ‚„Regenbogenstaat“. 80 % der Bevölkerung sind Schwarze, weniger als 8 Prozent Weiße. Zu den Coloureds zählen auch die Khoikhoi und San, die ersten die Südafrika bevölkerten.
Im Stadtbezirk V&A Waterfront, Kapstadt's Touristenattraktion Nr. 1, ist alles anders als auf meiner bisherigen Reise. In diesem Disneyland begegne ich nur Touristen, Ferraris und Luxusboutiquen. Es könnte wohl über all sein. Von Ubuntu ist keine Spur. Das erlebe ich erst wieder an den Tagen darauf im Township Langa und seinen Slums.
Das Zeitz Museum of Contemporary Art Africa gilt als das weltweit größte Museum afrikanischer Gegenwartskunst. Es ist in einen ehemaligen 57 Meter hohen Getreidesilo aus dem Jahr 1921 hinein gebaut und wurde 2017 eröffnet.
Township Langa
In die Slums von Kapstadt
Monatelanges Vorbereiten, um Zoo-Tourismus zu vermeiden. Chippa und Uwara zeigen mir die verschie­denen Viertel und machen mich mit Bewohnern bekannt.  Bei einem Naturheiler und einem Bischof finde ich Nachtquartiere. Überall werde ich freundlich empfangen. Ja, alles ist anders, wenn man ­wirklich dort ist.
Mein Uber-Taxi will nicht anhalten, es sei nicht ‚„safe“ hier. Dann schaffe ich es doch, den Fahrer zu überreden und treffe Chippa, mit dem ich monatelang alles vorbereitet habe. Sein Freund Uwara radelt mit mir durch die unterschiedlichen Viertel von Langa.
Verfrachtung der Schwarzen hinter den Zaun
Es dauert ziemlich lange, bis ich ein Uber-Taxi finde, das mich zum vereinbarten Treffpunkt in Langa bringt. Ob ich wirklich dorthin wolle, fragt mich der Fahrer immer öfter, als wir uns annähern. Angekommen weigert er sich zunächst, stehenzubleiben. Es sei hier nicht ‚safe‘.
Langa wird ab 1927 als Wohngebiet ausschließlich für Schwarze nach dem Vorbild von Konzentrationslagern gebaut. Die ausgestellten Pässe legen fest, wohin sich die Einwohner bewegen dürfen. Die Proteste dagegen werden 1960 von der Polizei durch ein Massaker niedergeschlagen. Heute leben hier 50.000 Menschen. Gleich daneben liegt ein riesiges Luxus-Golfressort.
Zoo-Tourismus oder Schaffen von Arbeit
Verschiedene Veranstalter bieten Touren in Bussen durch einige Straßen von Langa an. Manchmal wird auch ein Abstecher auf der Fahrt zum Flughafen gemacht, um noch schnell das Elend der Bewohner durch die Autoscheibe fotografieren zu können. Die Bewohner nennen das Zoo-Tourismus. Genau das will ich nicht. Ich finde Chippa, er ist in Langa geboren und lebt dort. Sein Freund Uwara fährt mit mir durch unterschiedliche Viertel mit dem Rad und führt mich zu meinen Schlafquartieren. Der Kontakt zu den Bewohnern ist sehr eng. Ich sei willkommen, denn ich bringe Arbeit.
Unterschiedliche Sozialstrukturen ohne Neid
Ubuntu wird auch hier gelebt. Die Art der Wohnquartiere reicht von tausenden Blechhütten mit Toiletten auf der anderen Straßenseite, wir sprechen meist von Slums, über Wohnblöcke mit unendlich vielen Satellitenschüsseln, bis zu einigen wenigen Einfamilienhäusern. Nein, Neid gäbe es nicht, meint Uwara. Alle fühlen sich zusammengehörig. George meint, auch wenn Bewohner von Blechhütten eine regelmäßige Arbeit finden, haben sie keine Chance auf eine Wohnung. Es gibt einfach keine. 
Schlafen im Township
Uwara und ich fahren mit dem Rad in einen informellen Bereich, nur mit Blechhütten und Feldwegen. Alle begrüßen mich freundlich, die spielenden Kinder haben ihren Spaß, Betteln ist in Langa unbekannt. Das kenne ich auf der ganzen Welt nur in Touristenvierteln. Dann gehen wir in die Hütte von Zola. Gleich zeigt er mir stolz seinen Fußboden. Dies seien Reste von Häusern, die er sanierte. Er arbeitet aber auch als Naturheiler, wir gehen in einen sehr kleinen Nebenraum, er erklärt mir die Funktion der dortigen Utensilien. Im ersten Stock befindet sich mein Bett. Strom gibt es seit einigen Jahren, Wasser keines.
Unathi renoviert Häuser und zeigt mir den Boden, den er aus Bauresten gemacht hat. Er ist auch Heiler der Traditionellen Afrikanischen Medizin. Seine Ausbildung hat er von seinen Vorfahren und anderen Heilern erhalten. Die Bezahlung erfolgt erst nach Erfolg der Therapie. In Geld oder auch mit einem Huhn oder einer Ziege.
Ich nutze Heilpflanzen, Diäten und Bäder. Durch Beschwörungsformeln stimme ich Götter und Ahnen milde. Die Traditionelle Afrikanische Medizin wird von der WHO gefördert, um die Grundversorgung der Bevölkerung zu verbessern.
Wo bleibt das Mitleid?
Ja, meine Eindrücke sind einseitig positiv. Aber ebendiese anderen, auch vorhandenen Seiten des Lebens in Slums scheinen mir wichtig. Man kann soviel Positives entdecken, lernen, das man vor dem Fernsehgerät bei einer Doku über all das Elend nicht sieht. Schon gar nicht beim Wegschauen. Es gibt viele Arten der Armut und des Reichtums. Nicht nur die materielle Dimension.
Oft werde ich gefragt, ob ich bei meinen Reisen kein Mitleid empfinde. Tatsächlich fällt es mir immer wieder schwer, keines zu verspüren. Aber erwartet wird das von den Betroffenen nie. Mitleid ist immer auch ein Bewerten, ein Herabsehen und Beurteilen. Ganz wichtig scheint mir hingegen Mitgefühl. Dem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen, seine Lage, seine Empfindungen versuchen zu verstehen. Das eigene Ego abzulegen, nicht mit den eigenen Werten und Normen zu messen und zu beurteilen. Die ethnozentrische Brille daheim zu lassen. Vielleicht Bischof Quangiso 100 kg Bohnen und 100 kg Reis für seine Suppenküche zu schicken. 
Der gesamte tibetanische Buddhismus baut auf Mitgefühl auf. Der Dalai Lama wurde einmal gefragt, ob ihm etwas Leid tue. Er konnte die Frage nicht verstehen. In der tibetanischen Sprache gibt es kein Wort ­dafür.
Das zweite Quartier ist bei Bischof Quangiso und seiner Frau. Seine Aufgabe ist es, sich um das Leben der Mitglieder seiner Gemeinde zu kümmern. Eine ganz diesseits orientierte Sozialarbeit. 
In der Werkstatt arbeiten in Langa zahlreiche heimische Künstler. Ich bringe eine aus bunten Drähten gemachte Streetwire Skulptur mit nach Hause. 
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